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Wohnen wird immer neu verhandelt
Praxisbeispiele zeigen, warum nachhaltiges Wohnen ein engagiertes Bürgertum voraussetzt.
Stadtbewohner*innen können Alternativen aufzeigen, wie sich Menschen ihre Wohnungen wieder besser leisten können: Wenn sie wieder aktiv werden und Ressourcen sowie Räume als Grundlagen demokratischer Teilhabe verstehen, kann Bauen zu einem kollektiven Akt werden, der vielen Menschen nützen kann. Sie selbst haben eine Verantwortung für die gemeinsame Gestaltung des städtischen Raumes, können ihn einfordern und wiedererobern. Doch was genau stellen wir uns unter gutem Wohnen vor? Und wie lassen sich neue Ideen gemeinschaftlich realisieren?
Die Terrassenhaussiedlung im österreichischen Graz wurde Mitte der 1970er-Jahre bezugsfähig. Heute wie damals ist sie ein begehrter Wohnort. (Foto: Andrea Singer)
Das Terrassenhaus in Graz
Wie eng die Wohnraumdiskussion mit politischen Entscheidungen und persönlichem Engagement verwoben ist, zeigen nicht nur aktuelle Projekte. In Österreich schuf die Werkgruppe Graz bereits in den 1970er-Jahren ein wegweisendes Beispiel der Mitbestimmung im Bauprozess.
Die Terrassenhaussiedlung wurde zwischen 1972 und 1978 gebaut. Der Entwurf beruht auf den Grundpfeilern von Offenheit und Demokratie. Diese beiden Prinzipien wurden besonders in der Gestaltung der Freiräume und der Gemeinschaftseinrichtungen bedacht. Die Freiräume regen zur Kommunikation an, die gemeinschaftlichen Räume bieten einen Ort für die Mitbestimmung der Bewohner*innen. Noch heute erfreut sich der Bau mit seinen 522 Wohnungen – bestehend aus unterschiedlichsten Typen, wie Terrassenwohnungen, Maisonetten, Atelier-Einheiten, und Dachterrassen-Wohnungen – großer Beliebtheit.
In den Gebäuden selbst, wie rundherum gibt es viele gemeinschaftliche Flächen. Verkehrsberuhigte Wege zwischen den Gebäuden laden zum Flanieren ein, zudem profitiert die Terrassenhaussiedlung von einem Raumüberschuss. Es war ursprünglich mehr Bauvolumen in Planung, als letztlich umgesetzt wurde. Der überschüssige Raum konnte aber noch während der Planung in die bestehenden Gebäude integriert werden. So entstanden zusätzliche Strukturen, jeweils im vierten Stock der Häuser. Diese Bauten kann man sich wie unausgebaute Wohnungen mit offenen Wänden vorstellen.
Diese zusätzlichen Räume werden für gemeinschaftlichen Veranstaltungen, wie zum Beispiel für public viewing von Sportveranstaltungen oder für Feste genutzt. Darüber hinaus bietet das sogenannte „Zentrum“ Büroräume und weitere Veranstaltungsräume für Feiern, Sportgruppen und Themenabende. In den Luftschutzbunkern, die 1965 noch vorschriftsgemäß gebaut werden mussten, dienen Kellerräume als Werkstätten und Proberäume. Zudem lädt alle zwei Wochen freitags ein Nachbarschaftscafé ein.
Das Terrassenhaus in Graz konnte in dieser Form nur umgesetzt werden, weil es den politischen Willen der Landesregierung gab, genau solchen alternativen Projektideen den Weg zu ebnen – aus eben diesem Versuch entwickelte sich das Modell Steiermark. In 28 Modellprojekten widmete sich der Ansatz der Aufgabe Wohnformen zu entwickeln, die bodensparend und finanzierbar waren. Während das konventionelle Wohnbausystem aus einem festen Gefüge von Politik, Bauträger und Verwaltung bestand, machte das Modell Steiermark auch die Bewohner*innen zu vollwertigen Mitgliedern im Entscheidungsprozess.
Das Hunziker-Areal in Zürich
In Zürich wurde bereits 1907 gemeinnütziger Wohnungsbau politisch initiiert. Die Weichen für die Zukunft wurden gestellt, die ersten kommunalen Wohnbausiedlungen konnten umgesetzt werden. 2007, zum 100-jährigen Jubiläum dieser Weichenstellung, lief im Zusammenschluss aus 35 Genossenschaften ein Großprojekt an, das der Idee „Mehr als Wohnen“ folgte. Denn, obwohl im Jahr 2015 in Zürich bereits mehr als 3200 neue Wohnungen fertiggestellt wurden – Baugenossenschaften errichteten 37 Prozent davon, sie sind somit der wichtigste Bauträger der Stadt –, ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware. Die 13 Baukörper am Hunziker-Areal sollten das ändern.
Bei der Planung wurden unterschiedliche Nutzergruppen mitgedacht, der Wohnraum in den verschiedenen Einheiten ist dementsprechend an ihre Bedürfnisse angepasst, so gibt es beispielsweise Wohnformen für Menschen mit kognitiver Einschränkung oder eine Senioren-WG. Die Entwürfe der Häuser spiegeln den Grundgedanken wieder, dass immer neu verhandelt werden muss, was die Bewohner*innen auf welche Art und Weise miteinander teilen. Im Haus A von duplex Architekten gibt es beispielsweise eine Großraumwohnung, in der auf 460m² zehn separate Wohnungen verteilt sind, die alle eine eigene, schalldichte Wohnungstür, ein eigenes Bad und eine Teeküche aufweisen. Den Wohnbereiche und die große Küche teilen sich die Bewohner*innen dagegen.
Das Areal wurde von den Initiator*innen von Anfang an als Quartier gedacht, nicht als Siedlung. Von daher wurden Orte der Begegnug von vornherein in Betracht gezogen. Ein gastronomischer Betrieb, zum Beispiel, der zu Salonabenden und zu Konzerten einlädt; ein Gemeinschaftsbüro, wofür jede*r Bewohner*in 20 Euro im Monat zahlt und hier arbeiten kann; ein Gemeinschaftsgarten, der den Menschen frisches Gemüse liefert oder eine voll ausgestattete Werkstatt. Das Hunziker-Areal ist wie ein Dorf in der Stadt: am großen Platz inmitten des Quartiers wird gemeinsam gefeiert.
Gleis 21 in Wien ist Wohnprojekt und kulturelle Begegnungsstätte zugleich. (Foto: Hertha Hurnaus)
Gleis 21 – Wien
In den Jahren des Roten Wien (1918-1934) gab die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung umfassende Sozialwohnungsprojekte in Auftrag. Sie tragen bis heute zum stabilen Mietpreisniveau der Stadt bei. Auch hier liegt, ähnlich dem „Modell Steiermark“, ein politischer Wille zugrunde, der bis heute das Zusammenleben vieler Menschen beeinflusst hat. Das stabile Preisniveau macht es nicht nur Mieter*innen einfacher, eine günstige Wohnung zu finden, es hilft auch den Baugenossenschaften dabei, entsprechend finanzierbare Grundstücke für Neubauten zu erwerben. Auch der Blick auf aktuelle Projekte und neue Entwicklungen in Wien ist aufschlussreich.
Besonders jene Bauvorhaben, die im Rahmen von Konzeptverfahren entstehen, zeigen auf, wie kooperatives Wohnen und neue, gemeinschaftliche Ideen verwirklicht werden können. In einem Konzeptverfahren entscheidet die Qualität des vorgeschlagenen Nutzungskonzepts – anstatt die Höhe des Gebots auf das Grundstück – ob ein Bauvorhaben den Zuschlag bekommt und umgesetzt werden soll. Ein solches Verfahren war auch Ausgangspunkt für das Projekt Gleis 21.
Gemeinsam haben 57 Menschen so lange an ihrer Vision eines gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens gearbeitet, bis eine Grundlage für die gemeinsame Bewerbung um ein Grundstück vorlag. Im neu entstehenden Sonnwendviertel südlich des neuen Hauptbahnhofs konnte Gleis 21 das Bewerbungsverfahren für Baugruppen für sich entscheiden, im Sommer 2019 wurde der Bau erfolgreich abgeschlossen. In der Planungsphase wurde der Entwurf von der Gemeinschaft schrittweise ausgearbeitet, Entscheidungen werden nach und nach getroffen. Den schönste Ort des Hauses – das Dach – teilen sich beispielsweise alle Bewohner*innen. Es gibt einen Dachgarten, eine Sauna und eine Gemeinschaftsküche, die allen zur Verfügung stehen.
Das Projekt sticht als Kulturraum im neuen Wiener Sonnwendviertel heraus. Es bietet dem Viertel Räume für Theaterevents, private Feiern, Seminare, Ausstellungen, auch eine Musikschule findet hier Platz. Darüber hinaus entwarf die Gemeinschaft der Entwickler*innen auch ein Wohnprojekt, das geflüchteten Menschen leistbaren Wohnraum zur Verfügung stellt. Es ist ein Zentrum der Kultur im Viertel und bietet einen Knotenpunkt zur Vernetzung der Bewohner*innenschaft.
Wohnen wird ständig neu verhandelt
Selbst- und gemeinschaftlich bestimmte Wohnprojekte sind wichtige Beispiele für unsere Gesellschaft und das soziale Miteinander, weil sie Wohn- und Stadtraum durch die gemeinsame Nutzung enger miteinander verknüpfen. Mit viel Kreativität und vor allem mit der Bereitschaft der Gruppen, eine Vision in die Realität umzusetzen, bilden sie eine gelungene und relevante Ergänzung zum herkömmlichen Wohnungsbau in Städten.
Wohnen ist nicht nur ein Anliegen Einzelner, sondern vielmehr ein demokratischer Prozess des Zusammenlebens, der ständig neu verhandelt werden muss. Politische Strukturen und der Wille, Bauprojekte zu fördern, die Abseits von Profiten Raum schaffen, sind unabdingbare Faktoren für guten und trotzdem leistbaren Wohnraum. Die beschriebenen Projekte zeigen aber auch, dass man durch Zusammenschlüsse und mit gemeinschaftlichen Ansätzen viel bewegen kann – guter Raum entsteht vor allem da, wo Menschen sich gemeinsam einbringen.
Erfahrt mehr über das Kulturprogramm von Gleis 21, das Leben im Hunziker-Areal
oder in der Grazer Terrassenhaussiedlung. Mit letzterem beschäftigt sich die
Architektin und Wohnbauforscherin eingehend, unter Anderem in ihrer aktuellen
Publikation
„Experiment Wohnbau – Die partizipative Architektur des Modell Steiermark“.
Text: Angelika Hinterbrandner
Fotos: Andrea Singer, Hertha Hurnaus