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Selbstversorgung in Aarhus: Gegessen wird, was da ist
Im Restaurant „Hærværk“ kommt das auf die Karte, was die Natur zu bieten hat. In diesem Fall Pilze aus dem Wald und frisches Gemüse. Keines der Lebensmittel muss einen weiten Weg zurücklegen, bis es hier in der Küche landet.
Hell ausgeleuchtet hängen sie da im Dry-Aged-Schrank: Ein Dutzend Hirschherzen, beige mit bläulichem Schimmer. Wenn man sie umdreht und den angeschnittenen Muskel anschaut, entdeckt man dunkelrotes, lufttrockenes Fleisch. Herzen, die plötzlich aussehen wie winzige Schinken. „Wir raspeln sie ganz dünn und servieren sie als Carpaccio oder auf Pasta“, sagt Rune Lund Sørensen, dunkelblondes Haar, freundliche Augen, Chefkoch des Sterne-Restaurants „Hærværk“, was so viel heißt wie: Vandalismus. Und beginnt sodann, einen Vortrag über Fleischessen und Ökologie zu halten. Wer in einem intakten Ökosystem leben möchte, muss die Wildjagd akzeptieren, findet Rune. Und wenn Tiere getötet werden, sollten sie auch gegessen werden. Der Mann, so merkt man, kocht nicht bloß mehrgängige Menüs, er verfolgt eine Mission. Und so kann es auch passieren, dass er seinen Gästen erst im Nachhinein – oder bloß auf Nachfrage – erzählt, welches Organ sie gerade verspeist haben.
Rune möchte, dass seine Gäste, und das ist keine Phrase, eine Nähe zum Essen entwickeln und das große Ganze im Blick behalten. Die Ökologie, die Jahreszeiten und auch, was der Klimawandel mit alledem macht. „Wir haben kürzlich Nektarinen aus Dänemark serviert, diese Frucht wird wohl bald hier heimisch sein können“, erklärt er. Und so ist ein Besuch in seinem Restaurant kein bloßer Zeitvertreib, es ist ein Lehrgang, ein Abenteuer, manchmal auch eine Herausforderung für die Geschmacksknospen.
Damit ist Rune Sørensen Teil einer Bewegung von Köchen, die sich auf das besinnen wollen, was die Region zu bieten hat. Es sei kein Menschenrecht, das ganze Jahr über Erdbeeren im Supermarkt kaufen zu können. „Das müsste eher gesetzlich verboten werden“, sagt er. In einem schlechten Sommer habe er auch schon sehr viele grüne Tomaten serviert. Auf den Tisch kommt, was da ist. Und wenn das bedeutet, dass man wochenlang Spitzkohl verarbeitet, liegt die Aufgabe darin, kreativ zu werden, ihn je nach seiner Beschaffenheit zuzubereiten. Geröstet, fermentiert, gekocht.
In Sachen Selbstversorgung hat Aarhus gute Voraussetzungen. Denn in unmittelbarer Nähe befinden sich Flächen für Landwirtschaft. Auch bis zur Küste ist es nicht weit und in den umliegenden Wäldern lebt nicht nur ausreichend Wild, es gibt auch viele Kräuter.
Wie Selbstversorgung zur Realität werden könnte
Das Thema bewegt nicht nur Köche, sondern auch Privatmenschen und Kommunen. Sollten wir uns Inseln der Selbstversorgung schaffen? Und wie? Nahe Berlin beispielsweise experimentiert ein Expertenteam mit der Züchtung von Algen und Quallen für den Hausgebrauch. In eine ähnliche Richtung geht die Forschung mit Insekten und Laborfleisch. Dieser Ansatz ist eher funktional: Bausteine von Nährstoffen, die nicht mehr von ursprünglichen Lebensmitteln herrühren, sondern durch neue erschlossen werden. Andere Städte experimentieren zunehmend mit Urban Farming, dem Anbau in der Stadt oder zumindest in der Nähe.
Aarhus hat diesbezüglich gute Voraussetzungen: Rund um die Stadt befindet sich fruchtbares Land und eine Vielzahl von Bauernhöfen, die in ihren Hofläden hochwertige Produkte verkaufen. An der Küste gibt es Krebse, Hummer und Fische, in den Wäldern ausreichend Wild. Die Politik fördert zudem den Anbau von Hülsenfrüchten in Dänemark. Dazu ist Aarhus eine Stadt der kurzen Wege: Vom Zentrum zum Hafen oder zum Strand sind es mit dem Rad nur wenige Minuten. Auch in der Natur ist man schnell.
Es war auch die Stadt mit ihrer gemütlichen Atmosphäre, die Rune dazu brachte, hier vor neun Jahren sein Restaurant zu eröffnen. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er da bereits in verschiedenen Küchen gewirkt und teure, aber nicht immer gute Zutaten aus aller Welt verarbeitet. „Wir müssen etwas für Aarhus tun“, sagte er damals zu Freunden. Er war es leid, in den Restaurants die ewig gleichen Gerichte serviert zu bekommen. Mit der Geburt seiner Kinder wurden gute Lebensmittel zudem immer wichtiger für ihn, und der Wunsch wurde stärker, mit diesen guten Lebensmitteln auch zu arbeiten.
Rune Sørensen will sich auf das besinnen, was die Region zu bieten hat. Das heißt, dass sich der Koch auf die Lebensmittel konzentriert, die heimisch sind und die gerade Saison haben. Worauf es ankommt, ist die kreative Zubereitung.
Die Verfügbarkeit bestimmt, was serviert wird
Schätzungsweise 90 Prozent dessen, was bei Rune und seinem Team im „Hærværk“ auf den Tisch kommt, stammt aus einem 30-Kilometer-Umkreis von Aarhus. Apodiktisch sein will er trotzdem nicht, allein schon, weil er bislang nicht genügend dänische Weine gefunden hat, die zu seinem Menü passen. Öl bezieht er auch mal aus Deutschland, Weine aus dem Süden Europas. Am Anfang jeder Woche kommen Produkte von den Lieferanten, und dann schauen sie, welche Gerichte sich mit diesen Zutaten kochen lassen. Oft ändern sich die Menüs täglich, wohl weit mehr als 1000 Kreationen sind in den neun Jahren Restaurantgeschichte schon entstanden. Auch deshalb, weil ein Gemüse manchmal am Vortag anders schmeckt, die Komposition der Zutaten also immer wieder angepasst werden muss. Was es gibt, erfahren die Leute erst, wenn es ihnen serviert wird; lediglich Allergien und Unverträglichkeiten dürfen vorab gemeldet werden.
Nicht selten findet man Rune, mit Familie oder allein, auch in der Natur rund um Aarhus, wo er Zutaten sucht, die seine Gerichte verfeinern. Holunder, Strandportulak, Pilze, Kräuter. Anfangs hatte er sogar ein eigenes Feld gemietet, um selbst Gemüse anzubauen. Doch das ging völlig schief: „Ich bin Koch und habe keine Zeit, gleichzeitig Gemüse anzubauen“, sagt er. Nun tauscht er sich regelmäßig mit seinen Produzenten aus, schlägt ihnen Kräuter vor, die sie anbauen könnten, oder besondere Gemüsesorten.
Kürzlich, erzählt er mit funkelnden Augen, wurde in dänischen Gewässern ein Gelbflossenthunfisch gefangen. Der Fisch war eigentlich zu hochpreisig für die feste Summe von 545 dänischen Kronen, gut 70 Euro, die das 4-Snack-5-Gang-Menü in seinem Restaurant kostet. Rune war es aber wichtig, die dazugehörige Geschichte zu erzählen. Die Geschichte der Rückkehr des Thunfischs.
Zuletzt, erinnert er sich, fing sein Großvater, ein Fischer aus Skagen, einen Thunfisch, als Rune noch klein war. Bei ihm wurde serviert, was er fangen, aber nicht verkaufen konnte. In seinem Garten baute er Zwiebeln, Lauch und grünen Spargel an, der Rest wurde mit dem Nachbarn getauscht, der wiederum Kartoffeln anbot. „Mein Großvater hat mir mehr über Essen beigebracht als die Restaurants, in denen ich früher gearbeitet habe“, sagt Rune. Zum Beispiel, dass in der Jagdsaison ausschließlich Wild auf den Teller kommt. Wenn der Jäger 30 Enten schießt, servieren sie im Restaurant dreißig Enten. Wenn er nur zehn schießt, eben nur zehn. Und manchmal gibt es fünf Gänge nur mit Gemüse. „Wenn wir so leben würden wie unsere Großeltern, könnten wir die Klimakrise vermutlich zu Teilen abfedern“, sagt er.
Etwa 90 Prozent der Lebensmittel, die im „Hærværk“ verarbeitet werden, kommen aus einem 30-Kilometer-Umkreis von Aarhus. Beim Wein zum Beispiel macht Sørensen eine Ausnahme. Denn bislang hat er nicht genügend dänische Weine gefunden, die zu seinem Menü passen.
"Oft ändern sich die Menüs täglich, weil ein gemüse manchmal am vortag anders schmeckt, die komposition aus zutaten also immer weider angepasst werden muss."
Im „Hærværk“ erfahren die Gäste erst, was es gibt, wenn sie es auf dem Teller sehen. Die Menüs ändern sich meistens täglich. Auch deshalb, weil ein Gemüse manchmal anders schmeckt als am Vortag. So sind in neun Jahren Restaurantgeschichte wohl mehr als 1000 Kreationen entstanden.
Wertschätzung für Lebensmittel entsteht durch Nähe
Doch dafür ist Engagement für Lebensmittel gefragt, denn die wachsen und formen sich ja nicht von selbst. Rune erzählt von Freunden, die angefangen haben, Brot zu backen. Erst für sich, dann für Nachbarn und andere Freunde, bis sie ein eigenes Geschäft eröffneten. Sich gegenseitig zu helfen, auszutauschen, gesellschaftlich beizusteuern, was fehlt. Das bringe uns womöglich auch aus der Überforderung, alles selbst machen zu wollen, glaubt er. Niemand kann sämtliches Gemüse für eine Familie selbst anbauen, es verarbeiten und konservieren, Brot backen, jagen, Hühner halten. Aber wenn sich Menschen, gerade so wie sein Großvater, austauschen, teilen und einander helfen, sei schon ein großer Teil des Wegs geschafft, hin zu einer Rückbesinnung auf natürliche Ernährung.
Regelmäßig kocht Rune mit Schulkindern, um zu zeigen, wie gut regionale Zutaten schmecken. „‚Sie geben den Kindern Messer und lassen sie selbst schneiden?‘“, habe ein Vater ihn einmal gefragt. „Ja, wenn er sich schneidet, bekommt er auch ein Pflaster von mir“, erwiderte der Koch. Um Essen wertzuschätzen, um etwas mit ihm anzufangen, müsse man ihm eben nah sein. Manchmal auch schmerzhaft nah. Seine Gäste ermuntert er, selbst mit Zutaten zu kochen, die sie normalerweise nicht kaufen würden, aber im Restaurant mit Genuss gegessen haben. „Wenn es schiefgeht, muss niemand verhungern. In Aarhus kann man sich 24 Stunden lang Pizza nach Hause liefern lassen.“
Rune wünscht sich, dass die Menschen ihre Angst vor gewissen Lebensmitteln verlieren und noch mehr mit den Jahreszeiten leben. „Das ist wirklich einfach“, sagt er.
Und er hofft, dass die Akzeptanz dafür wächst, dass eine dänische Melone eben teurer ist als eine aus Südeuropa. Und möge niemand den Mut verlieren, kreativ zu sein. „Wenn ich früher im Restaurant Sellerie auf der Karte sah, hätte ich ihn vermutlich nie bestellt“, gibt er zu. Heute liebt er das Kochen mit der Knolle, sagt er, und krempelt seinen Ärmel hoch. Dort prangt auf dem Oberarm ein Liebesbeweis, schwarz auf heller Haut: ein Tattoo – ein Sellerie.
Mit dem Konzept seines Restaurants hat sich Sørensen den Wunsch erfüllt, mit hochwertigen Lebensmitteln zu arbeiten. Er ist davon überzeugt, dass wenn sich Menschen austauschen, teilen und einander helfen, sei schon ein großer Teil des Wegs geschafft, hin zu einer Rückbesinnung auf natürliche Ernährung.
Autor: Vivian Alterauge
Fotos: Tobias Nicolai