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“Ich will Nachbarschaften in lebenswerte Orte verwandeln.”
Anonymität in der Großstadt gehört zusammen, wie die Butter zu der Stulle. Doch manchen Bewohner*innen fehlt die Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft innerhalb der Stadt.
Viele Menschen kennen nicht einmal mehr den Namen ihrer Nachbar*innen, geschweige denn würden sie dort klingeln, um sich zum Beispiel ein Ei oder eine Leiter zu borgen. Christian Vollmann ist Gründer von nebenan.de, eine Nachbarschaftsplattform, die genau diese Gemeinschaft zurück in die Kieze bringen möchte und ihre Bewohner*innen miteinander vernetzt. Zusammen mit Till Behnke und Ina Remmers leitet Vollmann seit 2015 das junge Unternehmen in Berlin. Für Vollmann ist nebenan.de ein Herzensprojekt.
Was wollt ihr mit eurer Plattform erreichen?
Unser Ziel ist es, Nachbarschaften in lebenswerte Orte zu verwandeln, an denen wir uns zu Hause fühlen und uns füreinander einsetzen. Mit dem kostenlosen Nachbarschaftsnetzwerk bieten wir Nutzer*innen die Möglichkeit, ihr Viertel zu entdecken und Teil einer lokalen Gemeinschaft zu werden. Dafür bringen wir auf der Plattform nicht nur Nachbar*innen untereinander zusammen, sondern verbinden sie auch mit sozialen Organisationen, Kommunalverwaltungen und lokalen Gewerben.
Was unterscheidet euch von anderen sozialen Netzwerken?
Bei nebenan.de tauschen sich verifizierte Nachbarn – also Personen, die auch wirklich vor Ort wohnen – aus. Nutzer*innen können nur mit Menschen kommunizieren, die in ihrer unmittelbaren Umgebung leben. Da Nachbarschaften, sozusagen, gemischte Zufallsgemeinschaften sind, treffen bei nebenan.de Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aufeinander. Statt in Filterblasen und Echokammern zu kommunizieren, lernen sich Menschen aus unterschiedlichen Alters-, Einkommens- und Herkunftsgruppen auf der Plattform kennen und schätzen. Das schafft Begegnungen und Vertrauen und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Großen. Wir sind der Meinung, dass wir genau das in unserer Gesellschaft brauchen, nachdem die Algorithmen uns immer fleißig nur mit Gleichgesinnten verbunden haben. Wir verzichten auf Algorithmen und nehmen darüber hinaus Datenschutz sehr ernst: Wir schließen ganz bewusst ein Geschäftsmodell aus, das auf der Vermarktung von Nutzerdaten basiert und sind als deutschlandweit einzige Nachbarschaftsplattform TÜV-geprüft.
Wie werden sich Nachbarschaften mit dem Wachstum der Metropolen verändern?
Wir sind davon überzeugt, dass Nachbarschaften zunehmend digital vernetzt sein werden. Im Kontext der Urbanisierung, Globalisierung und Digitalisierung ist es interessant zu sehen, dass das Lokale an Bedeutung gewinnt. Sei es die Restaurantbesitzerin um die Ecke, die uns mit Vornamen begrüßt, der Nachbar, der den Ersatzschlüssel der Wohnung hütet, oder die Nachbarschaftsgruppe, mit der wir gemeinsam den Stadtgarten pflegen – Nachbarschaften können in einer immer undurchsichtigeren und sich schnell verändernden Welt das Gefühl von Zugehörigkeit geben. Einige Entwicklungen beobachten wir jedoch auch mit Sorge: Wenn beispielsweise Mieten immer weiter steigen, Menschen mit weniger Einkommen verdrängt und Viertel homogener werden, steigt die Gefahr, dass auch die eigene Nachbarschaft zu einer Echokammer wird und eben der Austausch mit Andersdenkenden schwieriger wird. Da muss auch die Politik gegensteuern.
Anonymität und Gemeinschaft, wie passt das zusammen?
Dafür ist nebenan.de eigentlich das perfekte Beispiel. Gerade in Städten wollen manche Menschen ja auch gar nicht mit allen im Haus per „Du“ sein und empfinden das eher als soziale Kontrolle. Bei nebenan.de ist die eigene Nachbarschaft jedoch weiter gefasst: Alles im Umkreis von bis zu zehn Gehminuten gehört dazu. Das heißt: Ich kann mich über die Plattform mit fünf netten Personen aus meinem Viertel zum Spieleabend verabreden, aber trotzdem in meiner Wohnung für mich sein. Bei nebenan.de kann jede*r selbst entscheiden, wie viel nachbarschaftlichen Austausch er oder sie möchte – indem man auf die Fragen und Gesuche der Nachbarn reagiert und sich die Projekte und Aktivitäten heraus sucht, die dem eigenen Bedürfnis nach Gemeinschaft entsprechen.
Sind die Deutschen in Sachen Anonymität besondere Problemkinder oder ist der Wunsch nach hoher Privatsphäre eher international verbreitet?
Anonymität ist kein deutsches Problem, auch wenn wir dem Klischee nach etwas verschlossener sind als andere Nationen. Von unserer französischen Plattform mesvoisins.fr wissen wir beispielsweise, dass auch dort viele Menschen unter Anonymität und Einsamkeit leiden. Es gibt aber auch Regionen, wo Nachbarschaft noch einen deutlich höheren Stellenwert hat als bei uns. Wir haben zum Beispiel ein Interview mit einem Syrer geführt, der von der Nachbarschaft in seiner Heimat geschwärmt hat, in der sich Bewohner selbstverständlich um Schwächere oder Kranke kümmern und neu Zugezogene ganz anders willkommen heißen. Dort stehen die Türen quasi permanent offen für die Nachbarn. Das ist schon ein großer Unterschied und in einigen Sachen können wir sicherlich noch voneinander lernen.
Was ist der Schlüssel zu mehr Miteinander in der Stadt?
Der Schlüssel ist Vertrauen in die Gegenseitigkeit: Sei es, dass der Nachbar während des Urlaubs die Blumen gießt oder die Nachbarin Hilfe bei der Reparatur des Fahrrads anbietet. Wechselseitiges Vertrauen und Unterstützung spielen eine große Rolle für das Miteinander in der Stadt und sind elementar für integrative Nachbarschaften.
Inwiefern können auch Dörfer und Randgebiete von eurem Netzwerk profitieren?
Natürlich gibt es auch in ländlichen Gegenden Bedarf für digitale Vernetzung. Wie der Zusammenhalt im Dorf durch die Nutzung von nebenan.de als „Dorf-App“ wachsen kann und welches Potenzial digitale Tools für den ländlichen Raum bieten, zeigt das Beispiel der Gemeinde Neuerkirch: Im September 2017 entdeckte das rheinland-pfälzische Dorf unsere Nachbarschaftsplattform. Mittlerweile tauscht sich ein Großteil vom Dorf darüber aus. Die Erfahrungen zeigen, dass sich der Austausch der Dorfbewohner*innen so spürbar erleichtert und die Kommunikation auf digitaler Ebene zu Taten im echten Leben führt.
Laut einer eurer Statistiken ist Berlin die aktivste Stadt in eurem Netzwerk. Woran liegt das?
In Berlin sind bereits über 190.000 Nutzer*innen in unserem Netzwerk aktiv. Wer im Dorf groß geworden ist, ist es oft gewohnt, mit den Nachbar*innen ein Schwätzchen zu halten und sich über neue Entwicklungen in der Nachbarschaft auszutauschen. Gerade in Großstädten ist das Gefühl von Anonymität oft größer – und damit auch das Bedürfnis nach nachbarschaftlichem Miteinander. Mit nebenan.de wollen wir das virtuelle Dorf in der Großstadt aufbauen.
Wie sieht eure Utopie von einem Kiez aus?
Unsere Vision sind lebendige Orte, in denen Nachbar*innen mit ganz unterschiedlichen Lebensmodellen und Weltsichten zusammenkommen, sich engagieren, austauschen und gegenseitig unterstützen. Um diese realen Begegnungen zu vereinfachen und Begegnungshürden abzubauen, ist das Viertel digital vernetzt – von den Anwohner*innen über die Bäcker*innen und die Blumenhändler*innen bis hin zu lokalen Politiker*innen, Organisationen und Vereinen. Sie alle tragen zusammen zu einem Gemeinschaftsgefühl und mehr sozialem Zusammenhalt in der Nachbarschaft bei.
Interview: Charlotte Hölter