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Architekt Joe Halligan hat eine demokratische Vorstellung von der Stadt
Für Joe Halligan vom jungen englischen Architekturkollektiv Assemble beginnt die Zukunft der Stadt mit einer einzelnen Straße.
In einer alten Schule beheimatet strahlt das Londoner Büro von Assemble gute Laune aus. Die Arbeit des Kollektivs bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Architektur, Kunst und Design.
Kaum hat Joe Halligan die Tür des Studios im südöstlichen Londoner Stadtteil Bermondsey geöffnet, machen sich zwei seiner Mitstreiter in Richtung Gemeinschaftsküche auf, um Kaffee aufzusetzen: essentieller Treibstoff für das junge Unternehmen und seine interdisziplinären Projekte.
Das war so beabsichtigt: Das Kollektiv mietet für fünf Jahre einen Ort, funktioniert ihn den eigenen Bedürfnisse entsprechend um und zieht dann weiter. Dies unterscheidet Assembles Räumlichkeiten von anderen, typisch minimalistischen, in weiß gehaltenen Architekturbüros. Die hiesigen Badezimmer erinnern weiterhin an Schultoiletten und das ehemalige Schwimmbad wurde durch eine Art Skelettstruktur aus Säulen und Balken in einen offenen Raum umgewandelt, den das Kollektiv an andere Kreative vermietet, die ihn nach ihren eigenen Wünschen nutzen können. „Wir überlassen es ganz den Mietern, wie viel sie dort machen wollen und für wie lange“, sagt Halligan. „So können wir unsere Miete so niedrig wie möglich halten.“ Zu dem Studio gehört außerdem eine Werkstatt mit hohen Decken, wo Fliesen, Möbel und eine Fassadenattrape für ihr Projekt mit dem Goldsmiths Centre for Contemporary Art entstanden sind – Halligans Kollegen laufen hier mit personalisierten Overalls herum, auf denen „Assemble“ und der jeweilige Name steht.
Verzinkter Metallstuhl, von Assemble für das Café des Goldsmiths Centre for Contemporary Art designt.
Das Kollektiv machte seine ersten Schritte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass da etwas Neues entstand. 2010 entschieden 18 Freunde – hauptsächlich Studierende der Architektur aus Cambridge –, gemeinsam an den Abenden und am Wochenende an einem selbst gebauten, temporären Kino in einer stillgelegten Tankstelle in Clerkenwell zu arbeiten. „Wir wollten wieder selbst Sachen kreieren und waren irgendwie gelangweilt davon, in Architekturbüros zu sitzen. Unser Ziel war, uns die Hände schmutzig zu machen, uns mit der Stadt auseinanderzusetzen und herauszufinden, wie man Dinge baut.“ Seit dem Cineroleum können sie ein beachtliches Portfolio bestehend aus verschiedensten Projekten vorweisen, von Spielplätzen im Brutalismus-Stil bis hin zu Wanderausstellungen in bezahlbaren Wohnräumen.
Die kalkuliert unordentliche Atmosphäre in ihrem Büro ist nicht nur Fassade. Assembles horizontaler, kooperativer Arbeitsansatz, genauso wie ihre Verortung zwischen Architektur, Design und Kunst haben dem Kollektiv viel Aufmerksamkeit eingebracht. Nicht nur, weil es sich in diesen Punkten von traditionellen Architekturbüros unterscheidet, sondern weil es funktioniert: Die Gruppe erhielt 2015 den Turner Prize – als erste Architekten, erstes Kollektiv und darüber hinaus als jüngste Gewinner in der Geschichte der Auszeichnung, die sonst nur an bildende Künstlerinnen und Künstler vergeben wird.
Der bürokratischste Teil ihrer Zusammenarbeit war anfangs der sorgfältig ausgearbeitete Plan fürs Mittagessen – wer mehr im Büro isst, muss öfter kochen. Es gibt immer noch keine Chefs und jeder hat ein Vetorecht (für jedes potenzielle neue Projekt „wird als Teil unserer Treffen an Donnerstagen ein sogenanntes ‚Temperature Reading‘ abgehalten“). Seit der Auszeichnung ist das Unternehmen etwas strukturierter: Mittlerweile gibt es ein rotierendes Management-Team bestehend aus fünf Mitgliedern, das sich um Dinge von eingehenden Aufträgen bis hin zu Personalfragen kümmert und alle drei Monate neu besetzt wird.
Den Turner Prize erhielt das Kollektiv für seine fortlaufende Arbeit an Granby Four Streets, einem gemeinschaftlich geführten Projekt mit dem Ziel, das Viertel Granby in Liverpool wieder aufzubauen, das nach jahrzehntelanger, schlecht geplanter Sanierungsmaßnahmen fast restlos heruntergekommen war. Nur vier Straßen waren übrig, als die verbleibenden Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht länger in labilen Gebäuden leben wollten, sich organisierten und die Häuser vor dem Abriss bewahrten. Nachdem die Anwohner in spektakulärer Eigenarbeit mit dem Reinigen, Malen und Bepflanzen begonnen hatten, wandten sie sich an Assemble und baten um Hilfe bei der Sanierung von zehn Häusern und der Erstellung eines detaillierten Plans zur Wiederherstellung der Wohngegend, der das kulturelle Erbe der Nachbarschaft berücksichtigen würde. Das Kollektiv organisierte zudem einen Workshop, in dem zusammen mit der Anwohnerschaft Dinge wie Badezimmerfliesen und Türklinken in Handarbeit hergestellt wurden – zuerst für die Häuser vor Ort und später als Auftragsarbeit für Kunden weltweit.
Granby Four Streets steht für ihre Vision von Architektur als Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel. Laut Halligan denken viele Leute, dass „Assemble selbst bereits das Projekt ist: herauszufinden, wie 15 Leute ohne Hierarchien zusammenarbeiten können“. So weit, so gut, meint er, aber „die horizontale Struktur macht es für Außenstehende schwer zu verstehen, worum es bei Assemble tatsächlich geht“. Das Projekt hat so viele Ziele wie Mitglieder, aber für Halligan ist der interessanteste Aspekt der Fokus aufs Schaffen: „Egal, ob das Gebäude, Dokumente oder Möbel sind, die einen Dialog mit der Stadt ermöglichen.“
In einer Zeit, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebt und viele weiterhin dort wohnen möchten, sieht Halligan die großflächige Entwicklung und Ausdehnung von urbanen Räumen als die größte Herausforderung der Zukunft. „Wenn eine solche Geschwindigkeit nötig ist, um der Nachfrage nach Wohnraum in der Stadt nachzukommen, scheint es schwierig, die Art von Städten umzusetzen, die wir uns alle wünschen: Städte die Komplexität besitzen, Geschichte und eine Einzigartigkeit, mit Menschen, die lange Zeit dort bleiben”, erklärt er. Wenn Immobilien zur Ware werden, wie es in London geschehen ist, fügt er hinzu, werden Städte „viel elitärer: Es gibt nur eine Art von Mensch, der sich leisten kann, dort zu leben. Was bedeutet, dass die Städte nicht so gut sind, wie sie sein könnten“. Es ist schwierig für Architekten, dem Einhalt zu gebieten: Da Immobilien ein finanzieller Spielball sind, haben Bauunternehmer kein Interesse daran, hochwertige oder beständige Gebäude zu bauen – stattdessen konzentrieren sie sich darauf, so schnell wie möglich zu bauen, um so schnell wie möglich verkaufen zu können.
Halligan hofft, dass die Menschen verstärkt in einen Dialog mit ihrer Umwelt treten werden: „Architekten und die Öffentlichkeit müssen zu Bauunternehmern werden“, sagt er mit Vermerk auf das Liverpool-Projekt. „In Granby wird es sich besser leben als in irgendeinem der Bauprojekte in London. Aber das war dort nur möglich, weil die Häuser 1 £ kosten.“ Mittels dieser symbolischen Geste waren eine Käuferschaft für die Nachbarschaft sowie deren Wiederbelebung gesichert. In London hingegen ist unwahrscheinlich, dass Nachbarschaften verwahrlosen, da sie für Bauunternehmer schlicht zu wertvoll sind.
Dennoch gibt es Hoffnung – die Halligan mit einem Vortrag bei The Sooner Now in Berlin 2018 aufzeigte. Er sprach darüber, wie ihn Adam Sutherland von der Organisation Grizedale Arts inspiriert und darüber, dass Veränderungen immer auf einer lokalen Ebene beginnen: „Es fängt damit an, dass du dir eine Schüssel Müsli zubereitest, dann den Vorgarten gestaltest, danach die Häuser in deiner Straße und schließlich die Regierung, die dort die Entscheidungen trifft, wo du lebst“, erklärt er. „Dinge zu machen und zu gestalten, kann ein politischer Akt sein und vielleicht entstehen daraus bessere Städte und mehr Engagement.“
Granby Four Streets, 2013: Das fortlaufende, gemeinschaftlich geführte Projekt hat der ehemals heruntergekommenen Granby Street in Liverpool neues Leben eingehaucht.
Turner Prize Ausstellung, 2015: Assemble gestaltete einen Showroom, um den Granby Workshop einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.
Yardhouse, 2012–14 – ein bezahlbarer Arbeitsraum im Sugarhouse Yard in Stratford, gefördert von der London Legacy Development Corporation.
The Brutalist Playground, 2015, in Zusammenarbeit mit dem Künstler Simon Terrill.
Assemble ist ein multidisziplinäres Kollektiv, das an der Schnittstelle von Architektur, Design und Kunst arbeitet und für eine kollaborative Arbeitspraxis eintritt, die die Öffentlichkeit als Teilnehmerin und Partnerin in die Realisierung ihrer Arbeit aktiv miteinbezieht. Zu den bekanntesten Projekten des Kollektivs zählen Granby Four Streets und das Goldsmith Center for Contemporary Art.
Text: Marta Bausells
Photography: Liz Seabrook